Unsicherheit im Lehrberuf

In einer Feedback-Runde warf eine meiner Klassen einer anderen Lehrperson letzte Woche vor, sie habe in den letzten Wochen unsicher gewirkt. Kurz konnte ich dem Vorwurf zustimmen, dann machte er mich betroffen. Er schuf einen Kontrast zwischen mir, dem sicheren Lehrer, und der unsicheren Lehrperson. Er implizierte, um etwas vermitteln zu können, sei Souveränität unabdingbar. Ein paar Gedanken dazu. wapIch bin oft unsicher. Vieles, was um mich herum passiert, verstehe ich nicht. Schwierige Texte überfordern mich, zwischenmenschliche Konflikte lähmen mich, ich stehe mir oft selbst im Weg. Mein Körper ist nicht so, wie ich ihn gern hätte, ich höre mir selbst nicht gern beim Reden zu und wenn ich meine Texte zu oft lese, halte ich sie meist für trivial, fehlerhaft und nichtssagend.

Seit ich unterrichte, habe ich viele Strategien und Techniken gelernt, diese Unsicherheit zu verstecken. Ich antworte auf jede Frage so, als wüsste ich die Antwort. Zu fast jedem Thema äußere ich selbstbewusst eine Meinung. Ich stelle kleine Schwächen aus, um große zu verbergen. Abschließend aufzuzählen, wie das im Detail mache, überfordert mich, weil ich mir meist selbst verheimliche, was ich alle tue, um gut dazustehen.

Unsicherheit ist ein Motor für mich. Ich stopfe Wissenslücken so schnell es geht und reagiere meist prompt auf Kritik. Aber das ändert nichts daran, dass die Unsicherheit nicht verschwindet, sondern einfach weniger durchscheint.

Das hat Vorteile, wenn man als Lehrperson arbeitet, aber auch Nachteile. Strahle ich Sicherheit aus, dann gebe ich Schülerinnen und Schülern Mut, dass wir gemeinsam Durststrecken, Motivationsschwierigkeiten und Prüfungssituationen überstehen werden, weil ich selbst daran zu glauben scheine. Ich fordere sie implizit auf, für Probleme Lösungen zu suchen, Hilfe anzunehmen, stärker zu werden. Gleichzeitig scheine ich ihnen das Recht abzusprechen, Unsicherheit zu zeigen. Es ist nicht fair, dass ich vieles von dem, was ich tue, einfach aussehen lasse. Ich kann vor einem großen Publikum eine Stunde frei sprechen und zwei Tage hintereinander 50 mündliche Prüfungen abhalten, die alle ein unterschiedliches Buch zum Thema haben. »Können« heißt dabei, dass ich nie große Schwächen zeige, kaum anecke oder fundierte Kritik zulassen muss. Ein Teil davon sind Gaben, die ich durch Übung oder meine Gene erhalten habe, ein Teil davon Erfahrung. Ich bin während diesen Leistungen oft enorm unsicher, verkaufe Halbwissen als Wissen, stelle Fragen, deren Antwort ich selbst nicht weiß oder lenke von dem ab, worüber ich nicht sprechen möchte.

Das heißt nicht, dass ich nicht gut vorbereitet wäre oder meine Arbeit nicht gut mache. (Zumindest rede ich mir das ein.) Unsicherheit ist menschlich. Sie in bestimmten Situationen zu verstecken, auch. Aber eine Balance scheint mir wichtig. Kurz: Ich möchte lernen, mir langsam eine Meinung zu bilden statt schnell eine zu vertreten. Eine Frage zu verstehen und wirken zu lassen, statt sie zu beantworten. Schülerinnen und Schülern zu zeigen, dass sie nicht funktionieren müssen, weil auch ich nicht einfach funktioniere. Und doch die Zuversicht zu behalten, dass sich nicht ständig Abgründe auftun, in die ich zu fallen drohe, sondern die Ahnung dieser Abgründe ein guter Begleiter ist, den wir nicht ständig abschütteln müssen.

13 Kommentare

  1. Birgit Mathon sagt:

    Lieber Philippe,

    danke, dass du das Thema ansprichst!
    Ich habe mit KollegInnen oft darüber diskutiert und bin zu dieser Sichtweise gelangt:
    Wenn man sich als junger Mensch entscheidet PädagogIn zu werden, passiert es, dass man von der Schule zur Uni und dann schnurstracks wieder zurück zur Schule kommt, und so niemals am „realen Leben“ teilgenommen hat. In der Schule gilt nur eines: Wissen. Das lernen wir als Kinder, das lernen wir als Studenten, und so wird es wieder an die nächste Generation weiter gegeben.
    Im Leben „draußen“ zählt allerdings nicht das jederzeit abrufbare Detailwissen, sondern die Fähigkeit, so schnell und gründlich wie möglich das Wissen zu erlangen, das zur Bewältigung der anstehenden Herausforderung nötig ist. Natürlich braucht es dazu ein Basiswissen, und genau das sollen Schule und Ausbildung vermitteln. Was allerdings durch scheinbar allwissende PädagogInnen vermittelt wird, ist der Mythos, dass man alles Wissen bereits haben muss, um im Leben zu bestehen.
    Für mich bedeutet Souveränität einer Lehrperson, viel zu wissen und ruhig auch zuzugeben, dass man trotzdem nicht jedes Detail im Kopf haben muss. Zuzugeben, dass es wichtiger ist, logische Schlüsse ziehen und Verknüpfungen herstellen zu können, als Zahlen, Daten und Fakten aufzuzählen.
    Deshalb durften meine SchülerInnen bei Tests zB auch „Schummelzettel“ verwenden, sofern diese selbst erstellt und von ihnen selbst handgeschrieben waren – als Formelhefte quasi. Weil es im echten Leben doch auch so ist, dass man Fakten schnell einmal recherchieren kann, während die wirkliche Denkarbeit im Herstellen von Zusammenhängen und in der Anwendung der Daten und Fakten besteht.

    Mein KollegInnen verlangten von mir, dass ich jede Schwäche und jeden Fehler und jede Wissenslücke meinerseits mit „Tricks“ überspiele.
    Ich bin immer noch der Überzeugung, dass mein Weg, die Kinder das Selbst-Denken zu lehren und vorzuleben, während ich nie versucht habe den Eindruck zu erwecken alles zu wissen, den Kern dessen ausmacht, was die SchülerInnen als meine Souveränität empfunden haben. Und ich fühle mich wirklich souverän, weil ich nicht mehr als den Anspruch habe, Probleme lösen zu können – und diesen Anspruch kann ich tatsächlich erfüllen, während ich mit Allwissenheit völlig überfordert wäre.

    Herzliche Grüße und vielen Dank für deine immer gedankenanregenden Blogpostings!
    Birgit

    1. Liebe Birgit: volle Zustimmung,
      zum Lücken-Zugeben
      und Authentisch-Sein
      und vor allem zur Perspektive, auch nach dem „geheimen Lehrplan“ zu reflektieren und den lebenslangen Lerneffektiv für die Schülerinnen und Schüler im Blick zu haben.
      Danke und Grüße
      Michael

    2. Liebe Birgit
      Ich habe mich noch gar nicht für diesen schönen Kommentar bedankt. Er hat mich sehr gefreut und bestärkt!

      Liebe Grüße, Philippe

  2. Es ist doch kein Wunder, dass so viele Lehrkräfte diese Probleme haben, insbesondere junge, wenn ihnen in einer nach wie vor realitätsfernen Ausbildung als Referendare jeder noch so kleine, vermeintliche Fehler in Nachbesprechungen zu Unterrichtsbesuchen um die Ohren geschlagen wird. Man muss schon ein außergewöhnlich selbstbewusster Mensch sein, um das einigermaßen entspannt abtropfen lassen zu können. Auch bei Vorträgen vor Erwachsenen muss man nicht alles wissen, ein entspannt-selbstbewusstes „keine Ahnung, das muss ich mal recherchieren“ kann auch hier durchaus entwaffnend und sympathisch wirken.

  3. Sehr starker Beitrag und zwei Kommentaren, denen ich zustimme.
    Ich sehe zwei Ebenen im geschilderten Fall und Deiner Reaktion:

    1. Die persönliche Seite: Jede Lehrerin, jeder Lehrer ist Mensch und dazu gehört (hoffe ich) auch Unsicherheit, auch also produktive Herausforderung zur nochmaligen Klärung. Manchmal habe ich damit zu tun, dass (meine) vermeintliche Sicherheit in einem Wissen oder einer Beurteilung tatsächlich das Problem ist, nämlich von neuen Erkenntnissen oder Wegen abhält.

    2. Die kollegiale Ebene: Wie gehen wir damit um, wenn andere Lehrer/innen in unserer Anwesenheit kritisiert werden? – Finde ich immer besonders herausfordernd und zeigt dann, wieviel gepflegte Kollegalität es gibt.

    Den Hinweis auf kollegiale Beratung, Supervision und Coaching vom Kollegen Theo Bayland kann ich unterstreichen: Seit Jahren profitiere ich von solchen Strukturen und biete selbst eine bewährte Struktur für kollegiale Beratung zum download: pdf; 75 KB. an.

  4. MEIN Geheimnis als Lehrperson: „Sicher“ unsicher sein. So antworte ich SICHER auf Schülerfragen „Das weiß ich jetzt auch nicht (…werde mich aber kundig machen bis morgen /…lass es uns doch einmal googeln …./ …ein Spezialist dafür wäre XY… )
    Ich lobe Schüler, die auf Fragestellungen kommen, die ich auch noch nicht bedacht hatte (Das ist eine interessante/komplexe Frage, bei der es sich lohnt, sich einmal näher damit zu befassen – lasst uns das gemeinsam tun!). Bei Vorträgen, zumal vor einem erwachsenen Publikum, ist das sicher anders, aber als Lehrer MUSS ich nicht alles auf Anhieb wissen und können. Das wissen die Schüler doch auch. Sie wissen ebenfalls, dass ich mich nach bestem Wissen und Gewissen vorbereite (was ich auch im Falle von Referaten etc. von ihnen verlange). Sie wissen auch um meinen prinzipiellen Wissens- und Könnensvorsprung, aber deshalb muss ich doch nicht „allmächtig“ sein.
    Dabei lernen die Schüler von mir so wichtige Kompetenzen wie: zu seinem Unwissen stehen; gemeinsame Problemlösungsstrategien finden; das Bewusstsein, dass sich nicht alle Fragestellungen im Handumdrehen klären lassen und man sich Zeit dafür nehmen kann / darf, um Antworten oder Lösungen zu finden.
    Ebenso MUSS ich nicht der Allrounder im Lösen von Konflikten werden. „Im Moment bin ich da ratlos – lass uns das vertagen, wir reden morgen noch einmal in Ruhe darüber“ „Lasst uns gemeinsam eine Lösung finden“ sind Sätze, die man durchaus von mir hört. Dadurch habe ich noch nie Achtung oder Respekt verloren, im Gegenteil, die Schüler fühlten sich in ihren Anliegen ernstgenommen. Tatsächlich ist „Drüberschlafen“ oft ein Mittel, das zu einer Lösung führt.
    Eine einzige Sache jedoch wird von Schülern nicht verziehen, und das ist Inkonsequenz / Unklarheit im Handeln. Wenn ein Ziel, ein Weg, eine Regel festliegt, dann sollte man so lange dieser klaren Linie folgen, bis man gemeinsam (oder als Lehrer alleine, aber begründet) eine Neujustierung vornimmt.
    Ich meine, es gibt einen Unterschied zwischen Unsicherheit (die sein darf) und mangelnder Souveränität, die wohl die im post beschriebenen Schüler gespürt haben im Sinne von „ich muss da etwas von mir verstecken“/“ich weiß nicht, was ich als Nächstes tun soll“
    Welcher Lehrer hat noch nie Fehler gemacht oder Wissens- bzw. Könnenslücken gezeigt? Meist wirkt das doch auf Schüler heftig befriedigend im Sinne von „Siehste, der ist auch nur ein Mensch“ – und für sich selbst ist da Humor, über sich selbst lachen können, eine gute Hilfe.

  5. Diesen deinen Text finde ich stark und wichtig, weil du etwas öffentlich machst, das – in Lehrerzimmern und in der Lehrerbildung erst recht – selten angesprochen wird: die Unsicherheit einer Lehrperson.
    Ich erinnere mich: Als ich als Werkstudent mit etwa 22 Jahren eine erste Stelle als Hilfslehrer erhalten und meine ersten durchgängigen Klassen in Französisch zu unterrichten hatte, band ich mir vor jedem Schultag eine Krawatte um, um mir Sicherheit zu geben. Ich hatte abgrundtiefe Angst, Fehler zu machen vor meinen Mittelschülerinnen und -schülern. Mit den Jahren wuchs sich diese Angst aus, nach etwa 20 Jahren galt ich im Schulhaus, also im Kollegium und bei der Schülerschaft, als respektierte Fachlehrperson mit Expertenwissen in meinen Fächern und in Didaktik und als kreativer, geduldiger, positiv gestimmter Mensch, „mit dem man immer reden konnte“. Die von dir angesprochenen Unsicherheiten gab ich offen zu, zu meinen Fehlern stand ich. Und ganz offensichtlich fühlten sich die meisten meiner Schülerinnen oder Schüler, die unsicher waren (und wer war das in einem Fach wie Französisch nicht?), von mir verstanden. Warum? Weil sie an meiner Offenheit gegenüber meinen eigenen Unsicherheiten und Mängeln und meiner Einstellung dazu, ein Weg werde sich bestimmt finden, damit umzugehen, ablesen konnten, dass (Un)Sicherheit von relativer Bedeutung ist. Entscheidend war wohl auch, dass ich an meine Studierenden glaubte, dass sie mein Vertrauen in sie spürten und sich deshalb auch in Momenten der Unsicherheit akzeptiert fühlten.
    Dass eine Klasse mir jedoch meine Unsicherheit vorgeworfen hätte, habe ich nie erlebt. Wenn deine Klasse das einer anderen Lehrperson gegenüber getan hat, dann wäre wohl zu fragen, was sie mit dem Vorwurf anspricht: die fachliche Kompetenz? Das persönliche Auftreten? Die didaktische Sicherheit?
    Und es wäre weiter zu fragen: Warum tun sich so viele Lehrpersonen schwer damit, zum Beispiel in einer Super- oder Intervision oder in einer Balintgruppe ihr eigenes Tun zur Diskussion zu stellen und zu reflektieren? Das könnte ja mehr als nur sinnvoll sein, gerade weil Unsicherheit einer der Motoren sein könnte, wie du sagst, um im Beruf (und im Leben) weiter zu kommen!

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